Der Obdachlose als 'role model' in der zeitgenössischen Kunst.
Götz Bury (Wien), Moritz Fehr (Berlin), Göran Gnaudschun (Potsdam), Fabian Hesse (München), Florian Kuhlmann (Düsseldorf), N55 (Kopenhagen), Danny Schulz (Leipzig), Daniel G. Schwarz (Leipzig)
Materiell gesehen gilt derjenige als arm, der hungern muss, ohne Obdach ist und in Lumpen geht, dem es an physischer Stärke und sozialer Kompetenz mangelt, dem es an Einfluss, Ansehen und Wissen fehlt, dessen Rechte beeinträchtigt sind, der sich nicht verteidigen kann, der Verlassen ist und nicht von seiner Arbeitsleistung leben kann. Die vielfältigen Ausprägungen von Armut, hervorgegangen aus den verschiedensten Formen von Not und Bedrängnis, haben dennoch eine Gemeinsamkeit: die Unfähigkeit, die jeweilige Lage aus eigener Kraft und ohne fremde Hilfe zu überwinden und die, daraus resultierende unbedingte materielle wie moralische Abhängigkeit. Dabei reichen die Reaktionen auf Armut von Mitleid, Schuldgefühlen und Unbehagen über Angst und Aggression bis hin zu Verachtung und Ablehnung.
Mobilität hingegen ist ein Prinzip, das weit über die technisierte Fortbewegung – den Verkehr im engeren Sinne – hinausgeht. Mobilität ist das zugleich realistische wie idealistische Prinzip der fortgeschrittenen Moderne. Als konkreter Gegenstandsbereich in der Forschung stellt sich die Auseinandersetzung mit Mobilität als Prinzip und als Phänomen entsprechend den thematischen Prioritäten einer Disziplin dar: etwas als Tourismusforschung in der Soziologie, als Grundlagenforschung in der Physik, als Kommunikationsartikulation in der Kypernetik, als Erreichbarkeitsoptimierung in den Verkehrswissenschaften, als Zirkulation von Werten, Waren und Gütern in Finanzwirtschaft und Ökonomie, als Migrationsforschung in der Ethnologie und als Auseinandersetzung mit Mobilitäten in Architektur und bildender Kunst.
Als abstraktes Phänomen gefasst ist weder Mobilität noch Armut an sich darstellbar, sondern manifestiert sich vielmehr in den Lebensumständen von Menschen und im Verhalten ihres gesellschaftlichen Umfelds. Wenn Sozialsysteme über das Kriterium ihrer Mitgliedschaft diskutieren, verhandeln sie das Verhältnis von Zugehörigkeit und Nicht-Zugehörigkeit konkret an bestimmten personellen Typen. Kommunikation und Verhalten werden durch spezifische Werte und Normen derart aufeinander abgestimmt, dass im Falle einer Überschreitung beziehungsweise Nicht-Einhaltung der ausgehandelten gesellschaftlichen Pflichten die entsprechenden Individuen an die Peripherie der Gesellschaft exkludiert werden. Dieser Verdrängungsprozess geht mit einem sozialen Abstieg einher.
Die sichtbarste und gleichsam unterste Stufe von Armut bilden die Bettler und Obdachlosen. Dabei gibt es keine Gruppe in der heutigen Zeit, die mobiler ist als die der Obdachlosen. Es sind Menschen, die – aus eigener Entscheidung, doch zumeist von äußeren Umständen dazu gezwungen – ständig unterwegs sind, dringend einer Unterkunft bedürfen und allein deswegen diskriminiert werden. Mit ihren überlebensnotwenigen Lösungsansätzen, Mobiles und Immobiles unter der Prämisse von Funktionalität zu vereinigen, können Obdachlose und ihre Vehikel als innovative Ideengeber, als ‘role model‘ fungieren – insbesondere in Bezug auf eine Gesellschaft, die von erhöhter Mobilität bei gleichzeitiger Verringerung des verfügbaren Raumes geprägt ist.